Unscharfe
Bilder, alte Geschichten.
Alle Bilder:ORF-Filmstills, bearbeitet.
Kamera: Hermann Dunzendorfer
Etappe
zwei:
Geschlechtertürme
und Stadtindianer.
Die
südliche Nachbarin, L’Italia, galt lange Zeit als für
gesellschaftliche Veränderungen, die dazu führen, dass in the
long run alles
gleichbleibt. „In the long run we are
all dead“ sagte John Maynard Keynes und „Wenn wir
wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles
verändert.[1]“ lässt Tomasi de Lampedusa Tancredi zum Fürsten
Salina sagen. Bei Italien stimmt vieles davon: dass es für die verschiedensten
Entwicklungen Labor war: für den römischen Imperialismus, die Renaissance,
Futurismus, hier gab es den ersten Faschismus, danach ein Wirtschaftswunder,
eine Studentenbewegung, die einen Terrorismus hervorgebracht hat, der sich mit
dem organisierten Verbrechen gemein gemacht hat, dessen Bezeichnung „Mafia“ in
den unterschiedlichsten Weltgegenden mit unterschiedlichsten kulturellen
Hintergründen verwendet wird.
Die Obrigkeit
– gerufen und verachtet
Was
immer gleich bleibt: in Italien wird gerne gesungen, wurden und werden
Geschichten in Liedern erzählt, dürfen traurige Helden hochleben, darf die
Obrigkeit gerufen und gleichzeitig verachtet werden.
Vielleicht
ist ja nicht Italien das Experimentierfeld, sondern
dessen Umgang mit Autorität.
Italien
hat deutsche Denker fasziniert, englische Reisende zu genauen Beobachtungen
angestiftet, war Austragungsort lokaler Wettbewerbe nicht nur in Kriegsform sondern auch in Form weltlicher und religiöser
Protzerei, die bedeutendste künstlerische und architektonische
Hinterlassenschaften bleibend hervorgebracht haben.
Der
Hintergrund verblasst, die Anspielungen können nicht mehr dechiffriert werden –
nur Spezialist*innen haben die geistige und materialmäßige Ausstattung, um
sehen zu können, was vielleicht gemeint war oder sogar noch immer gemeint ist,
auch wenn die Anspielungen in weltlichen oder sakralen Kunstwerken nicht
aktuell erscheinen mögen.
Wo bin ich, was sehe ich? - Ein Rätselbild -
alles ist umgedreht, unscharf.
Vieles
ist rätselhaft, lokale Mythen verbinden sich mit antiker Geschichte, der
Vatikan, die Zentrale einer der mächtigsten Institutionen weltweit, hat zwar
immer mehr ihres Umlandes an den Laizismus verloren, aber historisch gesehen
bedeutet diese Schrumpfung arealen Einflusses vor
allem dessen Ersatz durch ein weltweites Netzwerk, das nicht von heiligen
Familien getragen wird, sondern von persönlich einsamen Männern, die Ersatz für
das suchen, was in archaischen Gesellschaften von Anbeginn – wie hieß es so
schön – die kleinste Zelle des Staates war: die Familie und dann der Clan.
Rund
um das Mittelmeer (und nicht nur dort) scheint diese Form des Selbstschutzes
und der Machtentwicklung noch immer die verlässlichste Organisationsform zu
sein. Deshalb ist „Staatsversagen“ in diesen Gegenden ein geringeres Problem
als anderswo. Der Staat kanalisiert allenfalls Konflikte zwischen Clans,
Kartellen und anderen Formen organisierter Kriminalität.
Ein Bild aus einem alten Film, verfremdet
durch Bildschirm und Filter. Ist das die Wahrnehmung des Touristen von Italien
oder ein realistischer Blick eines Italien-Kennenden, der versucht, die
unterschiedlichen Wirklichkeiten in der Unschärfe der Eindrücke ertasten zu
können? Entstanden auf der Reise zu den musizierenden Geschichtenerzählern des
Nachbarlandes. „Professione Cantautore“
hieß der 1989 entstandene Fernsehfilm. Die Kugel des optischen Instruments im
Bild war auf einem der vielen „Geschlechter-Türme“ Bolognas montiert. Filmte
durch kam das Unterste zuoberst.
So wie die „Stadtindianer“, diese
anarchischen Gruppe im Bologna der 1970er Jahre, symbolisch die
Freilassung der Ziere der Zoos forderte, träumte „Radio Alice“ von einer
anderen Welt. (Der Name bezog sich auf „Alice im Wunderland“). In Zeiten der „spesa proletaria“ des
„proletarischen Einkaufens“ mit Diebstahl und Raub in Geschäften sollte es ein
freies Radio geben, um, „Denen eine Stimme zu geben, die nie eine hatten“. Cantautori nahmen damals – mehr oder weniger poetisch -
vielfach Partei für Streikende und Protestierende.
Claudio Lolli zum Beispiel zum Beispiel
hatte ein Naheverhältnis zu Radio Alice.
Sieg und
Desaster
„Hasta la victoria siempre!“ – „Immer bis zum Sieg“ davon konnte keine Rede sein , speziell im Rahmen der italienischen Dialektik, dass
immer auch das Gegenteil wahr ist (ich bilde mir ein, dies in vielen
italienischen Dialogen gelernt zu haben), ist auch das Che
Guevara Zitat einzuordnen. Das damals „rote“ – also kommunistisch verwaltete –
Bologna hatte von 1999 bis 2004 einen Berlusconi nahestehenden Bürgermeister
und Che steht inzwischen genauso als Revolutionär wie
als Mörder da. Immer bis zum „disastro“ könnte man
dementsprechend genauso formulieren.
Für Guccini und
seinen Freund Lolli und für praktisch alle Cantautori
war „Politik“ kein einfaches Thema. Man hatte engagiert zu sein, irgendwo
zwischen den vielen Gruppen, zwischen Avanguardia Operaia, Lotta Continua, mit der
PCI der eurokommunistischen Partei mit ihrem Vorsitzenden Enrico Berlinguer, der über den historischen Kompromiss mit den
Christdemokraten nachdachte, hatte man wenig am Hut. Besonders im roten Bologna wo die PCI ja praktisch schon immer die
Mehrheit hatte und die Tiere im Zoo lassen wollte, so wie die Mehrheit der
Menschen, die da lebte.
Berlusconis Nachdenkpartner bei den
Christdemokraten Aldo Moro wurde von den Roten Brigaden ermordet, eine
Beteiligung der Kommunisten an der Regierung wurde dadurch für immer
hinausgezögert, denn als die Nachfolgepartei der PCI die Mehrheit hatte, war
das Wörtchen „kommunistisch“ schon längst aus ihrem Namen verschwunden. Moro
wurde 1978, entführt von den Roten Brigaden, ermordet, Berlinguer
starb 1984 an den Folgen eines Schlaganfalls. Aber Sergio Mattarella,
ein Angehöriger des früheren Moro Flügels bei den Christdemokraten wurde –
inzwischen zur sozialdemokratischen „Demokratischen Partei“ gewechselt, vor
kurzem, zum zweiten Mal zum Staatspräsidenten gewählt – als 80-Jähriger.
„Du suchst Gerechtigkeit und triffst auf das Recht“
Hatten die Cantautori
mit Gramscis Parole von der „kulturellen Hegemonie“ etwas zu tun? Sie
transportierten jedenfalls massenhaft gesellschaftskritische Texte, waren gegen
den Militarismus, sahen Liebe anders als sie in den Schlagern besungen wurden,
und erreichten ein Massenpublikum in vollen Stadien und auf überfüllten
Plätzen. Das, was jemanden bewegte, wurde, einer alten italienischen Tradition
folgend in Liedform gebracht – ob das nun ein Bandit war, dem seine
Leidenschaft für eine Radrennfahrer zum Verhängnis wurde (Francesco de Gregori,
„Il bandito
e il campione“ über Costante Girardengo, Radfahrer,
und Sante Pollastri, Anarchist und
Krimineller, beide aus Novi Ligure). Eine Zeile aus
dem Text von Luigi Grechi (De Gregoris Bruder)
scheint typisch für die Welt der Cantautori: „Du
suchst Gerechtigkeit und triffst auf das Recht“. Und so singt Franceco Guccini über die Tat
eines Lokführers, der Ende des 18. Jahrhunderts eine Dampflokomotive entführte
und Richtung Bologna fuhr. Bis zum Ende. Guccini
deutet die Aktion in „La Locomotiva“ als „Giustizia proletaria“, quasi
anarchistische „Propaganda der Tat“.
Schon 1968 hat er ein Lied zum Tod von Che Guevara begonnen, dass erst drei Jahrzehnte später
erschienen ist, „mit uns blieb sein Denken in der Welt“ singt er da, und er
bemüht einen Gedankengang von Tod, Weiterleben oder Auferstehung, den er schon
in seinem frühen Lied „Dio é morto“ verwendet hat:
1965 geschrieben, 1967 von den Nomadi zuerst auf
Platte aufgenommen, wurde es von der RAI nicht gespielt Guccini
schließt an Nietzsche an, dass die
Menschen Gott „getötet“ hätten, mit ihrem Opportunismus und der Heuchelei,. Allerdings,
so der Schluss, liege es an einer neuen Generation, die Welt neu zu gestalten
und damit Gott wieder auferstehen zu lassen. Kein Wunder, dass Radio Vaticano das (Protest-) Lied gespielt hat und dass es
angeblich selbst von Papst Paul VI geschätzt worden sein soll.
Inzwischen hat sich Guccini
über 80-Jährig von den Bühnen zurückgezogen, Bücher über seine Welten und
Krimis schreibt er schon lange, gern verwendet er auch den Dialekt seiner
unmittelbaren Heimat Pàvana in der Provinz Pistoia an
den Hängen des Apennin.
Guccini hat sich schon
früh mit der Geschichte beschäftigt, zum Beispiel in seinem Lied über Auschwitz oder dem über die Auswanderung nach Amerika,
er gilt als einer der Begründer italienischen Protestsong-Kultur. Claudio Lolli
war stärker in die damals politischen Auseinandersetzungen involviert.
Er adaptierte
einst den Filmtitel von Aleksandar Petrović „Ich
traf sogar glückliche Zigeuner“ für eine seiner bekanntesten LPs als Titel „Ho visto anche
degli zingari felici“, die „Zingari“ standen für
unangepasste Menschen vor allem junge aus der der Protestbewegung der 70er
Jahre. Zwischendurch machte er Pausen, beschäftigte sich als Lehrer mit den
Sorgen der Jugendlichen, blieb mit Guccini
befreundet, schrieb Bücher, und begann wieder erfolgreich Musik zu machen. Er
ist neben Lucio Dalla, Fabrizio de Andre und Pino Daniele einer der großen
verstorbenen Liedermacher.
Aranciata,
Marina, erste Reisen.
[1] Der Leopard. Übersetzung von
Charlotte Birnbaum. 1. Kapitel (Tancredi zu Fürst Salina). Piper-Verlag, 1959.
S. 32