By Jean-Pol GRANDMONT - Own work, CC BY 4.0
Auch
Vaporetti können Trauer tragen
6.4.2023
Ein Schwarzweißfoto in der FAZ, eine gefesselte Ertrunkene
scheint im seichten Wasser Venedigs zu liegen, inmitten von harten
Betonwürfeln. Das Bild gehört zu einer Rezension eines Romans über dunkle
Stunden der Lagunenstadt, als Juden und Jüdinnen verfolgt, deportiert und
ermordet wurden und Partisan*innen von der Wehrmacht demonstrativ öffentlich
erschossen wurden. David Hewsons Roman „Garten der Engel“[1] behandelt in einer fiktiven
Geschichte historische Ereignisse, Hannes Hintermeiers Rezension machte mit der
Darstellung des Partisaninnendenkmals von Carlo Scarpa und Augusto Murer in der
Nähe der Giardini die Geschichte fast noch spürbarer.
„Schreiben Sie was darüber?“ wurde ich gefragt. Ich dachte
ein wenig über Geschichte und Fiktion nach, wie sie sich in Bücher Filmen mit
eigenen Wahrnehmungen verknoten, und ich sah auch nach, was es mit dem Denkmal
für die Partisanin und dem Sockel des berühmten in Venedig geborenen
Architekten Carlo Scarpa auf sich hat. Und siehe da, es ist nicht der einzige
Sockel, den Scarpa für die Partisanin entworfen hatte, und Murer ist nicht der
einzige Bildhauer, der für das Denkmal eine Figur entwickelt hat. Leoncillo
Leonardi, der selbst Widerstandskämpfer war, erhielt einen ersten Auftrag, das
Werk wurde 1957 präsentiert, und nur durch einen Zufall existiert davon noch
eine frühere Version: 1961 nämlich wurde Leoncillos Skulptur von Neofaschisten
gesprengt, den darauffolgenden Wettbewerb gewann Augusto Murer, ebenfalls ein
ehemaliger Widerstandskämpfer und Partisan. Von der ersten Skulptur blieben nur
Reste von Scarpas Sockel und die allererste Version des Denkmals, bei der die
Auftraggeber die rote Farbe des Halstuchs der Partisanin gestört hatte…
Dampf
ablassen
Wir sind also bei der Vaporetto Station Giardini, gleich in
der Nähe des Denkmals auf der einen Seite, auf der anderen Seite der Station
liegt die „Riva dei Sette Martiri“, die an ein prägendes Datum im
Venezianischen Widerstand erinnert, das auch ein wesentlicher Punkt im Buch
David Hewsons ist: am 3. August 1944 wurden hier sieben wegen Widerstands gegen
die deutsche Besatzung Inhaftierte als Repressalie für den Tod eines
Wehrmachtssoldaten ermordet – vor großem Publikum, das eigens herbeigeschafft
wurde. Dass der Soldat ins Wasser gestürzt war, nicht weil er attackiert wurde,
sondern weil er betrunken war, wurde nicht weiter beachtet.
Werden Denkmäler von Vorbeigehenden als Irritation
wahrgenommen, oder sind sie – gerade in einem Ort, der selbst schon ein
Monument ist – nur Teil der Stadtmöblierung, so wie eine Anlegestation für
Vaporetti? Eine Haltestelle für den öffentlichen Verkehr, in einer Stadt in der
Gondeln das darstellen, wofür sonst vielleicht Pferdekutschen dienen?
Dabei sind ja schon die „Vaporetti“ selbst Erinnerungsstücke.
Das, was der Inhalt des Wortes bezeichnet, gibt es nicht mehr, denn im Inneren
der Vaporetti arbeitet keine Dampfmaschine mehr. Heute sind es Schiffsdiesel
und bald vielleicht Elektromotoren. Die Sonnensegel der Wasserbusse könnten aus
Solarzellen bestehen, ein bisschen zumindest die venezianische Sonne nutzen –
um nur ein wenig in die Zukunft zu schauen, wenn schon die Vergangenheit das
Thema ist. Mit „kleiner Dampfer“ könnte man „Vaporetto“ wohl am besten
übersetzen, und zunächst, ab 1881, waren die damals in Betrieb gestellten Boote
des öffentlichen Verkehrs ja auch tatsächlich kleine Dampfschiffe.
Etappenziel
„Vaporetto“ und Venedig war für mich fast ein Begriff: als
Kind das erste Mal mit den Eltern in so einem Schiff durch die Stadt zu fahren
war aufregend, Venedig wurde allgemein angesehen wie ein Wunder, und jahrelang
konnte ich bei meinen häufigen Fahrten nach Italien nicht anders als in Venedig
halt zu machen.
Ein paar Stunden am Parkplatz oder sogar im Parkhaus an der
Piazzale Roma stehen bleiben und rein ins Gewirr der vielen Gassen. Die Wege
kannte ich bald auswendig, die leistbaren Trattorien ebenfalls. Manchmal, wenn
etwas mehr Zeit war, wurde mit dem Vaporetto der Linie 1 der Weg zum Lido
genommen. Die edlen Wassertaxis für die Hotelgäste oder Gondelfahrten waren off
limits, in den Gässchen wurden die Venezianer*innen über die Jahre immer
seltener, und der Eindruck, dass Touristen von den vielen Hänlder*innen wie
Beutetiere betrachtet wurden, ließ sich immer weniger verdrängen. Dafür, dass
mir mein Vater bei einem Besuch Venedigs einmal eine einfache Gitarre gekauft
hatte, bin ich ihm bis heute dankbar. Den Namen am Erzeuger-Etikette weiß ich
bis heute: „Giuseppe Indelicato“ soll der Mann geheißen haben, der die Gitarre
gebaut hatte, und einer, der als Musikauskenner galt, sagte, nachdem er auf dem
Billiginstrument einen Akkord angeschlagen hatte, mit Kennermiene „also
bundrein ist die nicht“.
Das störte nicht, weil ich ohnedies fürs Gitarre spielen zu
ungeschickte Finger hatte, aber es war fein, eine Gitarre im Zimmer stehen zu
haben und an Venedig zu denken. Weil sie nicht besonders wertvoll war, wurde die
Gitarre immer wieder verborgt und irgendwann verliert sich die reale Spur des
Instruments, bei aller positiver Erinnerung.
Bevor es
Tintenfische tiefgekühlt gab
Der mitfahrende Freund sagte: „wir müssen unbedingt ‚fritto
misto‘ essen“ und so wurde der erste Kontakt mit dem Meer auf der Italienreise
entsprechend gefeiert. Wien – Tarvis, an der Grenze warten, langsam durchs
Kanaltal trödeln, erste Pause in Udine, nächste in Venedig. Dann Geld sparen
und über Landstraßen weiter in den Süden – Chioggia, Cesenatico, San Marino,
über den Apennin zum anderen Meer, zum richtigen, tyrrhenischen. Rom, Neapel,
meistens war in Paestum der Umkehrpunkt. Und immer ging es bei den Diskussionen
mit neuen Bekannten und älteren Freunden um Politik. Wer sympathisiert mit welcher
linken Splittergruppe, in welcher Stadt ist welche Bewegung stark, wo ist die
faschistische Gefahr am größten? Die neue linksliberale Repubblica kam auf den
Markt, Pasolini schrieb aber noch im bürgerlichen Corriere, Manifesto oder
Lotta Continua waren eher etwas für Spezialisten, die Lieder der Cantautori
aber waren für alle.
Über Venedig sang auch der emilianische Liedermacher Guccini,
er übernahm ein Lied eines Ensembles aus Genua und machte die Geschichte der
20-jährigen Stefania berühmt, die bei der Geburt ihrs Kindes stirbt, im
Venedig, wo die Fahrten der Gondeln an ein Ringelspiel erinnern und die
Giftwolken aus Porto Marghera die Stadt zwischen Europa und dem Orient
eintrüben.
Aber wie trüb war Venedig erst in Zeiten der Republik von
Salò, in den Zeiten als die Wehrmacht Juden und Jüdinnen verfolgte und sich die
Nazis Mussolini nur mehr als Marionette hielten und ihre KZs bis nach
Norditalien brachten.
Claudio Magris beschrieb den endzeitlichen Nazi-Terror in
Triest in seinem Roman „Verfahren eingestellt“[2]. Schließlich gab es in Triest sowohl
das KZ in der ehemaligen Risiera San Sabba, und im Roman von Magris das Schloss
Miramare als Ort für das Fest zu Hitlers allerletztem Geburtstag am 20. April
1945. Unter Mitwirkung des Kärntner Gauleiters und dann auch für Friaul
zuständigen Friedrich Rainer.
Nicht weit entfernt finden in Venedig, von dem alle Seiten
glauben, die Alliierten würden es wegen seiner kunsthistorischen Bedeutung
nicht bombardieren, nicht nur im Roman von David Hewson Tragödien statt.
Jüdische Partisan*innen treffen auf Einheimische, auf deutsche Offiziere im
Dienste des Holocaust, zum Verrat genötigte Priester und jüdische Funktionäre,
auf Opportunisten und Helden. Mit vielen Annäherungen an die reale Geschichte
des Kampfes um Würde und Überleben wird man nach der Lektüre von „Garten der
Engel“ mit anderen Gefühlen durch die Lagunenstadt gehen. Besetzt ist die
Lagunenstadt nicht mehr von gewalttätigen Truppen, das Wirtschaftswunder nach
dem Krieg, die Massen der Besucher haben dazu geführt, dass die Stadt von
Tagestouristen bald nur mehr mit Eintrittskarte besucht werden darf. Selbst der
Bürgermeister-Philosoph Massimo Cacciari konnte gegen die durchgängige
Kommerzialisierung seiner Stadt wenig ausrichten. Aber auch in Hewsons Buch
entsteht selbst in der Zeit der Verfolgung und des Widerstandskampfes immer
wieder eine zumindest kommerzielle Nähe zwischen Tätern und Opfern, wenn zum
Beispiel Verfolgte für Verfolger Preziosen aus Samt weben.
Im Roman beginnt alles damit, dass die Leiche eines deutschen Soldaten ertrunken im Kanal gefunden wird, ein lautes Wort und das Leben eines Protagonisten nimmt eine andere Richtung… und auch das Schicksal eines sehr ambivalent dargestellten Polizisten-Opportunisten hängt bis zum Schluss des Buches an einem seidenen Faden. Was Wunder, wenn ein Gutteil der Handlung in einer Weberei spielt.
Mythos Via
Appia
Hewson[3] hat für ein anderes Buch – so wie
auch der Triestiner Autor und Journalist Paolo Rumiz[4] – die römische Via Appia abgegangen,
und es ist interessant diesbezüglich auf seiner Homepage Namen von Orten zu
finden, die ich den Zeiten der Venedig Aufenthalte oft besucht habe: Minturnae
/ Minturno, oder Terracina, ich war viele Jahre früher dort, bin nun in alte
Fotodateien gepurzelt. Ein Bild von der Via Flacca in der Nähe, am Meer entlang
die Direttissima zwischen Terracina und Gaeta bildend, wie lang musste man
warten, um das Foto zu bekommen, so, dass die gesprayte Schrift wirklich Sinn
bekommt: „Gott beschütze dich“, denn sonst droht das Ende der irdischen Reise.
Aber um mit
Francesco Guccini zu sprechen, wir haben ja Gott sterben lassen. Und das nicht
nur an den Straßenrändern, genauso auf der Suche nach Dingen, wie wir nicht
finden, mit den Mythen von den Rassen… Und jetzt sind wir – um Nietzsche zu
folgen – Waisenkinder.
Und plötzlich
taucht wieder Venedig auf – nicht mit der jungen sterbenden Mutter Stefania,
nicht mit den zwei verwaisten jüdischen Geschwistern, die in Hewsons Buch den
Kampf gegen den Faschismus aufgenommen haben, nein wir sind bei Friedrich
Nietzsche, der sich in Venedig mit Musik vom Verlust der Götter tröstet: „Wenn ich ein andres Wort für Musik
suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig. Ich weiss
keinen Unterschied zwischen Thränen und Musik zu machen, –
ich weiss das Glück, den Süden nicht ohne Schauder von Furchtsamkeit zu denken.“
Wenn man den „Garten der Engel“ gelesen hat, dann kann man Venedig ähnlich
und gleichzeitig ganz anders sehen, Schönheit und Schaudern gingen Hand in Hand
auch wenn man einmal „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ von Nicolas Roeg mit
Julie Christie und Donald Sutherland
gesehen hat.
Die Geschichte und ihre Geschichten verändern die Wahrnehmung, so wie die
Kunst der Biennalen, oder die auch abstoßende Attraktivität der Stadt und die
Abgründe, die ins Acqua alta führen. Es nützen a la longue keine
Hochwasserschutzbauten, auch wenn man sie M.O.S.E, Modulo Sperimentale
Elettromeccanico nennt – „Mosè“, nach dem
Mann, der durch das geteilte Rote Meer geflohen ist, um sein Volk zu retten.
Stirbt Venedig, wie die erschossenen Partisanen, wie die Flüchtlinge im
Mittelmeer, die von hier nach Auschwitz deportierten Jüdinnen und Juden?
Es ist schwierig, Venedig unbefangen zu besuchen.
[1]
David Hewson: Garten der Engel. Roman. Übersetzt aus dem
Englischen von Birgit Salzmann. Folio Verlag Wien Bozen 2023.
[2] Claudio
Magris:
Verfahren eingestellt. Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria
Gschwend. Carl
Hanser Verlag, München 2017
[4] Paolo
Rumiz: Via Appia. Auf der Suche nach einer verlorenen Straße. Übersetzt aus dem
Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag Wien-Bozen 2017