rainer rosenberg

 

genug gefragt

 

 

 

Das Widewitt-Prinzip

Text hören

Die meisten Dinge, die man erfinden will, gibt es schon irgendwo auf der Welt. Und dass der jenseits-aller-Moden-Erfolg von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf zur Erfindung eines „Pippi Langstrumpf Syndroms“ führen würde, erstaunt nicht. Der wohl aus gutem Grund Pseudonymträger H.N. verfasste unter diesem Titel ein Buch, das bemerkenswerterweise auf dem bekannten Lied beruht:

2 x 3 macht 4
Widdewiddewitt und Drei macht Neune !!
Ich mach‘ mir die Welt
Widdewidde wie sie mir gefällt…

Allerdings gefällt dem Autor die Welt, die er erfindet gar nicht. Hitler erscheint da als Opfer einer Verschwörung und die Danksagung richtet sich an viele, die in der rechten deutschen Verschwörungstheoretikerszene einen guten Namen haben.

Interessanterweise kam ich auf den zuerst erwogenen Titel „Pippi Syndrom“ wegen eines dazu passenden Vorfalls:

Ich habe ja vielerlei und unterschiedlichste Facebook-Freund*innen. Einerseits, weil ich manche davon schon lange persönlich kenne und sie durch Facebook wieder in meinem Leben aufgetaucht sind, andererseits bemühe ich mich auf diese Weise dem Algorithmus ein wenig Vielfalt näher zu bringen. Denn auch der Algorithmus folgt ja bekanntlich Pippis Widewitt-Prinzip.

Mit Ironie ist dem Prinzip wohl leichter näherzutreten als mit rechter Ideologie. C.D., der Verfasser dieses Zitats, bezeichnet sich als „humanistischer Misantrop“ und steht ideologisch ganz woanders als der vorher erwähnte H.N.:

 

Realitätsverweigerung &

Erkenntnisresistenz

Zitat: "Das Pippi Langstrumpf Syndrom (PLS) bezeichnet einen Zustand massiver und dauerhafter Realitätsverweigerung mit ausgesprochen aggressiver Beratungs- und Erkenntnisresistenz. Das Pippi Langstrumpf Syndrom ist keine Krankheit mit eindeutigen diagnostischen Kriterien, sondern ein Zustand unter dem nicht die direkt Betroffenen, sondern deren Umwelt leidet. Im Gegenteil, die Betroffenen selbst richten sich in ihrer eigenen Welt ein. Sie verweigern einfach der bösen Realität die Akzeptanz und glauben sie so besiegt zu haben. Ähnliche Verhaltensweisen kennt man von Kleinkindern, die sich beim Versteckspielen die eigenen Augen zu halten, in der Annahme man könne sie dann ebenfalls nicht mehr sehen."[1]

Was hat also zu meiner Nacherfindung des Widdewitt-Prinzips geführt?

Ein alter Bekannter, dem ich auf Facebook nach Jahrzehnten wieder begegnete, scheint das zu sein, was oft fälschlicherweise als „Coronagegner“ bezeichnet wird. Und als er ein Posting über verschwiegene Impfnebenwirkungen an einer Klinik in Deutschland absetzte, schickte ich einen Kommentar mit einem Dementi der Klinik. Daraufhin erhielt ich folgende Nachricht:

„Sorry, ich hab‘ Deinen Beitrag gelöscht, weil ich dulde es nicht Artikel von bezahlter Presse auf meiner Seite zu haben, es ist schon schwer genug überhaupt Material zu finden, das die Folgen der Impfung aufzeigt, weil alles unternommen wird, das zu vertuschen, Personal wird von Pflegeheimen und Krankenhäusern gekündigt etc. Also bitte sowas zu unterlassen, auch keine Faktenchecker die von George Soros & Co bezahlt werden!“ (Tippfehler ausgebessert)

Hatte dann eine Diskussion mit mir selbst, ob ich darauf antworten soll oder ob ich mich auf Kommunikation beschränken soll, die solche Themen ausspart, schließlich habe ich – teilweise aus alter Verbundenheit, teilweise aus Algorithmus-strategischen Gründen – einige Facebook Freund*innen, mit deren Überzeugungen ich sehr wenig anfangen kann.

Ich hätte zu den oben erwähnten Corona Bemerkungen geschwiegen, wäre mir nicht Tage darauf ein anderes Posting aufgefallen, von einem der auf Facebook „Philantropie“ unter seinen Namen schreibt:

 

„Philantropische“ Rachegefühle

„Gerade gehört, dass ein Bekannter von mir sich auch beim Impfen vorgedrängt hat. Als ‚gefährdet‘ sieht er sich wichtiger an als Ärzte und andere, die wirklich an der Covid-Front tätig sind und es wirklich brauchen. Es ist zum Speiben wie bei den Bürgermeistern: ich wünsche allen Vordränglern herzlich ein ‚trotz Impfung Covid‘, dass sie zwar überleben lässt aber sie auch zum Nachdenken anregt!“

Eine Frau kommentiert:Rachegedanken helfen leider auch niemanden. Wünsch ihm lieber Einsicht und die Erkenntnis, dass er auch mal die Rücksicht anderer brauchen wird.“

Der Autor: „Doch! mir helfen sie und ich brauche ja nicht selber aktiv werden… so wie ich bei hardcore Braunen immer gerne an die letzte Szene von Inglorious Basterds denke. Einsicht ohne traumatisches Erlebnis erwarte ich mir bei dem nicht...“ Und: „so ein persönliches ungefährliches Ventil ist schon gut“

Frau: „Weißt Du, warum er sich gefährdet sieht? Ich habe im weiteren Bekanntenkreis drei Covid-Todesfälle, von denen ich vorher nicht wusste, dass sie Diabetiker waren. Man macht solche chronischen Krankheiten nicht gern öffentlich. Ist auch kein gutes Thema für Smalltalk am Buffet der Weihnachtsfeier.“

Von Angst getrieben sind da offenbar beide Seiten, und als Gemeinsamkeit finden Impfgegner und Befürworter Empörung. Und genau das ist dann der Punkt, der mich interessiert.

Mich hat ja die Geschichte vom Arzt, der während einer Impfaktion eine Spritze für seine kranke, aber noch nicht impfberechtigte Frau abgezweigt hat, berührt, halte Regeln nicht für Selbstzweck und meine, dass Eigenverantwortung auch mögliche Regelbrüche beinhaltet. Trotzdem bleibe ich dabei, den Organistor*innen der Impfaktionen zu vertrauen. Nicht weil ich glaube, dass alles optimal läuft, aber ich möchte die ohnedies komplizierten Abläufe nicht weiter erschweren. Es gibt viele Möglichkeiten sich zu schützen und keine scheint perfekt zu sein, ich und wir alle kennen uns wenig aus. Was man aber wissen kann, ist wie man sich benehmen sollte. Nämlich gut. Den anderen ihre Widewitt-Welten lassen, solange sie nicht stören, gefährlich werden, nicht gefährlicher werden als religiöse Überzeugungen, die staatlich geschützt sind, als Bergtouren, die Bergrettungseinheiten gefährden bis zum Lawinensuchhund.

Was also könnte man dem verschwörungstheoretischen Pippi Pseudonym-Autor, der überall Verschwörungen sieht und damit selbst eine kreiert, sagen? Was dem alten Bekannten, der gegen jede Evidenz Faktenchecker[2] als Teil einer Verschwörung vermutet und selbst eine entsprechende Theorie aufbaut, oder dem Freund des ordentlichen Anstellens, der Dränglern eine schwere Krankheit wünscht?

 

Seinesgleichen – nur im Spiegel?

Ich wollte mich wirklich nicht zu Covid äußern, und glaube, ich habe es auch nicht getan. Hier geht es um den Wunsch die Augen offen zu halten, die Einzelnen sehen, die miteinander viele werden und als Teil von Vielen offenbar unsichtbar.

Wohl deshalb sehen sich immer mehr Einzelne nur mehr, wenn sie in den Spiegel blicken, erkennen einander aber nicht im realen Gegenüber. Das dient dann – frei nach Arno Gruen – nur mehr zum Abladen der eigenen schlechten Eigenschaften. Historische Vorbilder? Jede Menge. So lässt es sich fein über die Spaltung in unterschiedlichsten Gesellschaften reden – in Demokraten und Republikaner, Abschieber und Gutmenschen, und und und.

Also dann: sagen wir halt:

Drei mal drei ist neune,

ich mach die Welt, wie sie mir gefällt.

 

 

PS: Ludwig Wittgenstein „Über Gewissheit“ Satz 487:

 

Was ist der Beweis dafür, daß ich etwas weiß?

Doch gewiss nicht, daß ich sage, ich wisse es[3].

 

 

Das große und das ganz kleine Welttheater

11.10.2020

 



[1] Pippi-Langstrumpf-Syndrom, das › dobschat.io, abgerufen 11.2.2021

[2] Keine schweren Impfnebenwirkungen bei Klinik-Personal in Mannheim (correctiv.org) abgerufen 11.2.21

[3] Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit. Frankfurt am Main, 1970, Suhrkamp. S. 127.